Der bevorstehende Megabörsengang der chinesischen ABC Bank zeigt: Auch im
IPO-Geschäft sorgen die Schwellenländer für die Superlative. Aktuelle Studien
dokumentieren, wie weit die Verlagerung schon gediehen ist. Selbst viele
deutsche Unternehmen denken über einen Gang an Chinas Börsen nach.
Hamburg - In China steht mit dem IPO der Agricultural Bank of China (ABC Bank)
möglicherweise der weltweit bislang größte Börsengang bevor. Rund 22 Milliarden
Dollar könnte die ABC Bank mit ihrem für den 15. Juli geplanten IPO einnehmen.
Getoppt wird dies im Laufe des Jahres vermutlich noch durch eine 25-Milliarden-
Dollar-Kapitalerhöhung
des brasilianischen Ölkonzerns Petrobras. Schon im
vergangenen Jahr hatten die Kreditkartengesellschaft Visanet sowie der brasilianische
Ableger der spanischen Santander Bank mit Milliardenplatzierungen in Sao Paulo
Meilensteine gesetzt. Und in Europa führt Polen im zweiten Quartal das Ranking der
Länder mit den höchsten IPO-Umsätzen an.
Drei Superlative am Kapitalmarkt - drei Schwellenländer. Das bestätigt, was Experten
seit langem beobachten: Das große IPO-Geschäft wird längst nicht mehr an den
etablierten Börsen in New York, London oder Frankfurt gemacht. Die Musik spielt
vielmehr in aufstrebenden Märkten, und zwar vor allem in Fernost. Hongkong,
Shanghai und Shenzhen, so heißen die neuen Hot Spots für frisches Eigenkapital.
Im vergangenen Jahr, als vor allem in Europa und den USA Krisenstimmung herrschte,
war das besonders drastisch zu beobachten. Etwa 50 Börsengänge mit einem
Gesamtvolumen von rund elf Milliarden Euro gingen 2009 in Hongkong über die
Bühne. Im gleichen Zeitraum brachte es der geregelte Markt in Frankfurt lediglich auf
ein einziges IPO. Knapp 50 Millionen Euro spielte dabei die Platzierung der Aktien des
Mobilfunkzulieferers Vtion Wireless Technology ein - und das ist ausgerechnet ein
chinesisches Unternehmen.
Am heutigen Mittwoch berichtet zudem Ernst & Young (E&Y) über das weltweite IPOGeschäft.
Und die Zahlen, die Unternehmensberatung für das Geschehen im zweiten
Quartal 2010 veröffentlicht, passen genau ins Bild: Insgesamt 301 Börsengänge mit
einem Gesamtvolumen von 46,1 Milliarden Dollar gingen laut E&Y von April bis Juni
rund um den Globus über die Bühne. Das sind etwas mehr als im Vorquartal (289) und
deutlich mehr als im gleichen Zeitraum 2009 (82).
Entscheidend aber: 67 Prozent der Transaktionen entfallen laut E&Y auf Unternehmen
aus Schwellenländern und 23 Prozent auf Industriestaaten. Gemessen am Volumen
ist das Ungleichgewicht noch deutlicher: Nicht weniger als 73 Prozent des Kapitals
wurden laut E&Y in „developing countries“ umgesetzt.
Auch das Ranking der größten Börsengänge wird von den aufstrebenden
Volkswirtschaften dominiert. Laut E&Y wurden sechs der zehn größten Börsengänge
von Unternehmen aus Schwellenländern durchgeführt. 14 von ihnen befinden sich
unter den Top 20.
Einige Kostproben: Angeführt wird die Hitliste vom südkoreanischen
Lebensversicherer Samsung, der im April Aktien im Wert von 4,4 Milliarden Dollar an
der koreanischen Börse platzierte. Auf Platz zwei: Der polnische Versicherer PZU mit
einem Emissionserlös von immerhin 2,7 Milliarden Dollar. Erst auf dem dritten Rang
folgt eine Platzierung an der Londoner Börse - durchgeführt allerdings von Essar
Energy und damit von einem indischen Energieunternehmen.
„Der Trend zu Schwellenländern wie China und Indien hält an“, kommentiert Michael
Oppermann, IPO-Experte von Ernst & Young, gegenüber manager magazin. „Die USA
und Europa verlieren weiter an Bedeutung.“ Als Grund für die Entwicklung nennt
Oppermann die höheren Wachstumsraten in den Schwellenländern sowie den generell
unterschiedlichen Reifegrad der Volkswirtschaften. „Die Schwellenländer sind einfach
in einem dynamischeren Stadium“, sagt er.
Das bestätigen auch Zahlen, die am Dienstag von der Beratungsgesellschaft
PricewaterhouseCoopers (PwC) veröffentlicht wurden. Demnach wird China in diesem
Jahr wieder zum Land mit den meisten Börsengängen weltweit. Laut PwC dürften an
den Finanzplätzen Shanghai und Shenzhen 2010 etwa 300 Unternehmen neu notiert
werden. Im ersten Halbjahr waren es bereits 176.
Es setzt sich also fort, was bereits vor Jahren seinen Anfang nahm. Schon seit Beginn
des neuen Jahrtausends beobachten Experten eine Verlagerung der IPO-Tätigkeit,
und zwar weg von den US-Börsen, hin zu europäischen und vor allem asiatischen
Finanzplätzen.
„Den Ausschlag gab der so genannte Sarbanes-Oxley-Act in den USA“, sagt Christoph
Kaserer, Kapitalmarktexperte und Professor an der Uni München. „Unter diesem
Eingriff hat das IPO-Geschäft in den USA merklich gelitten.“
Hintergrund: Mit dem Sarbanes-Oxley-Act (SOX), einem US-Gesetz aus dem Jahr 2002,
wurden die Anforderungen an börsennotierte Gesellschaften in den Vereinigten
Staaten nach oben geschraubt. Ursache der Regelverschärfung waren die
Bilanzskandale von Unternehmen wie Enron oder Worldcom, die das Vertrauen der
Anleger an den US-Börsen erheblich erschüttert hatten.
Infolge des SOX geriet die Wall Street im Kampf um die großen Stücke vom IPO-Kuchen
gegenüber den wichtigen europäischen Handelsplätzen wie London und Frankfurt,
insbesondere aber auch gegenüber Hongkong, Shanghai und anderen Märkten in
Fernost zusehends ins Hintertreffen. „Verstärkt wird diese Verschiebung noch dadurch,
dass die Kapitalmärkte in Europa und Asien ohnehin schneller wachsen, als jener in
den USA“, sagt Kaserer.
Das gilt vor allem für die aufstrebenden Volkswirtschaften des fernen Ostens, so der
Experte. „Viele Unternehmen in China oder Indien sind enorm groß geworden und
streben jetzt an die Börse“, sagt er. „Zudem kommt es zunehmend zu Privatisierungen
ehemals staatlicher Firmen.“
Als Beispiele nennt Kaserer den jetzt anstehenden Börsengang der ABC Bank, aber
auch jenen der Industrial and Commercial Bank of China (ICBC), der 2006 umgerechnet
rund 22 Milliarden Dollar einspielte. Das IPO war weltweit bislang das größte
überhaupt.
Das starke Aufkommen der Börsen in Fernost ist aber nicht ausschließlich auf die
dort blühende Wirtschaft zurückzuführen. Zum Teil sind es auch Unternehmen von
außerhalb, die beim IPO bewusst das heimische Parkett meiden und stattdessen
gezielt den Kapitalmarkt Chinas entern.
Ein Beispiel dafür ist der russische Aluminiumkonzern Rusal, der im ersten Quartal
2010 Aktien für mehr als zwei Milliarden Dollar an der Börse in Hongkong platzierte.
Ein anderes, weniger prominentes, ist die Schramm Holding AG, ein Hersteller von
Lackbeschichtungen aus Offenbach.
Als erste deutsche AG ging der Mittelständler mit 200jähriger Firmengeschichte
Ende vergangenen Jahres an die Börse in Hongkong. Mit fünf Millionen Aktien nahm
Schramm dort beinahe 17 Millionen Euro ein.
„Die Wahl Hongkongs für den Börsengang war für uns eine strategische Entscheidung,
denn wir haben Asien ganz eindeutig als Wachstumsregion Nummer eins für unser
Geschäft identifiziert“, sagt CEO Peter Brenner zu manager magazin. „Die Frage war,
wie wir unsere Visibilität dort am besten verbessern können.“
Hintergrund: Der chinesische Markt hat für das Unternehmen, das 2007 von der
koreanischen Samsung Chemical Paint-Gruppe (SSCP) übernommen wurde, eine
enorme Bedeutung. Mehr als die Hälfte der Schramm-Mitarbeiter sind schon heute in
China aktiv. Zudem soll ein Großteil des IPO-Erlöses in Werke dort fließen.
„Wir haben den Börsengang in Hongkong noch keine Sekunde bereut“, sagt Brenner.
„Das Listing schafft Transparenz und steigert das Vertrauen unserer Kunden.“
Experten zufolge wird der Lackhersteller wohl kein Einzelfall bleiben. „Wir treffen
immer häufiger deutsche Unternehmen, die an die Börse streben und dabei auch über
die Finanzplätze in China nachdenken“, sagt Christoph Gruss, Partner bei PwC.
Vor allem für Firmen, deren Geschäft stark auf die asiatische Region ausgerichtet ist,
kommt der Schritt in Frage, so Gruss. „Wir sprechen zurzeit mit mehr als einer Hand
voll Mittelständlern, die mit Produktion, Einkauf oder Vertrieb in China tätig sind und
daher für einen Börsengang auch den Kapitalmarkt dort in Betracht ziehen“, sagt er.
„Die Märkte dort sind in den vergangenen Jahren deutlich transparenter geworden
und die Risiken daher besser einschätzbar.“
Gruss erwartet zwar auch hierzulande in der zweiten Jahreshälfte und vor allem im
kommenden Jahr ein wieder anziehendes IPO-Geschäft. China aber, da ist sich der
Experte sicher, wird künftig von weiteren deutschen Firmen angesteuert werden.
„Wir erwarten dort in Zukunft mehr Geschäft“, sagt der Fachmann.